ES IST GENUG! XXVIII,2: Kollektive Dummheit (Anlass: jüngste Proteste gegen Abtreibung in den USA)

… Kurz nach einem Attentat in Tucson, Arizona, bei dem neun Menschen starben, mehrere verletzt wurden, darunter die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords, rüstete die Bevölkerung auf, schnellten die Waffenkäufe in den USA in die Höhe, wie schon nach dem Amoklauf eines Jugendlichen in Blacksburg, bei dem 2007 33 Menschen getötet wurden. Schon damals forderte Larry Pratt, Direktor der Vereinigung „Gun Owners of America“, die Aufrüstung der gesetzes-, wahrscheinlich auch gottesfürchtigen Bürger, damit sie in der Lage sind, sich selbst zu verteidigen. Der nahezu unbekannte republikanische Abgeordnete des Bundesstaates Utah im Repräsentantenhaus Jason Chaffetz, vormals Football-Spieler, bekennt freimütig, er werde in Zukunft mit einer Waffe zur Arbeit gehen, wie es wohl viele im Waffen liebenden, besessenen und vernarrten (wer möchte eine Definition zum Begriff Narr? Hier eine, die in unserem Zusammenhang passt: „Ein Mensch, welcher des Gebrauches seiner Vernunft ganz unfähig ist; ein Wahnwitziger, Wahnsinniger, Alberner“ – albern sind sie nicht) Arizona praktizieren werden, denn dort gelten die lockersten Waffengesetze. Wie zu Wild-West-Zeiten kann jeder seine Waffe überall hin mitnehmen. Möglich wurde dies nach einem Urteil des Supreme Court im Jahr 2010. Dieser knickte vor der für Wahlen sehr relevanten Waffenlobby ein und bekräftigte, dass das Halten und Tragen ein verfassungsrechtliches Recht jedes Amerikaners sei. Auch Obama knickte ein. Schon vor der Wahl betonte er, dass es unter seiner Regie keine schärferen Waffengesetze geben werde. Auch seine Wahl wurde mit Millionen von den Waffenlobbyisten bezahlt. Was sind da schon 33 oder neun oder sonst wie viele Tote. Das fördert nur das Geschäft.

Da der Einfluss der Tea-Party-Bewegung, der evangelikalen Scharfmacher und der intellektuellen Tiefflieger des „intelligent“ Design-Lagers im politischen Treiben immer stärker zunimmt, verschärft sich auch die Stimmungs- und Meinungsmache gegenüber Homosexualität und Abtreibung. Begleitet wird diese von Gewaltausbrüchen gegen Homosexuelle. Auf Tagungen der alten, nur wenigen jungen Konservativen debattiert man über die Schädlichkeit der fehlgeleiteten sexuellen Orientierung, bemüht ernsthaft Bibeltexte zum Beleg und streitet sich über die richtige Auslegung des Erfundenen. Sie unterscheiden sich nur graduell von den radikalen Koranauslegern – beide hassen Andersdenkende, Andersseiendes, glauben, wissen, sie selbst seien im Besitz der alleinigen Wahrheit.

Nicht nur gegen Homosexuelle machen die Konservativen mit ihrer Speerspitze, der ultrarechten Tea-Party-Bewegung, in den USA Front, auch gegen eine Gesundheitsreform. Gegen die Mehrheit der Bevölkerung, von der nahezu 46 Millionen Menschen keine Krankenversicherung besitzen, verteidigen die Konservativen die Rechte der Industrie und die kapitalistische Ideologie. Entscheidend in der Diskussion sind nicht die Menschen, die bei Arbeitslosigkeit durch den Verlust der Krankheitsvorsorge in den persönlichen und finanziellen Ruin getrieben werden, sondern die möglichen finanziellen Einbußen der Großkonzerne, der pharmazeutischen Industrie oder der Banken, die auch dann noch verdienen, wenn eine Person durch die hohen Krankheitskosten sein Haus verliert, und die paranoide Angst, eine allgemeine Gesundheitsreform rücke die USA in die Nähe eines kommunistischen oder sozialistischen Staates.

Die Fülle von Beispielen könnte ein eigenes Buch zum Überquellen bringen: Vom Rassismus gegen den eigenen Präsidenten, dem religiösen Wahn, dem antiwissenschaftlichen Alltagsdenken, dem verblödenden Fernsehschund, von der „Drei-Affen-Reaktion“ gegen alle Maßnahmen, die den Klimawandel weniger dramatisch gestalten würden, von den blinden, hasserfüllten Aktionen gegen Abtreibungsbefürworter, das Festhalten an den „Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn“-Regeln, die besonders das Rechtssystem kennzeichnet, von den paranoiden Überwachungspraktiken, von der wahnhaften Meinung, man besäße die einzige Wahrheit, gesellschaftlich, politisch, religiös, persönlich, überall – „Die Wahrheit“ heißt eine Radiosendung in Arizona, die die angeblich wahren Werte der Vereinigten Staaten verteidigen will, das alte Amerika, wahrscheinlich das vorkonstitutionelle, das, in dem die Bibel noch Gesetzestext war; wo ist der Unterschied zu den Ansichten der Vertreter der „Wahren Religion“, den islamistischen Brandstiftern, die in der Bundesrepublik ihr Unwesen treiben.

Die jüngsten Proteste gegen die Abtreibung runden die Beispielkette ab. Die Abtreibung ist ein Grund, vor das Oberste Gericht zu marschieren. Ein noch undefinierbarer, noch nicht menschlicher Zellklumpen treibt die Demonstranten auf die Straße – wo sind sie, wenn junge Menschen für den anerzogenen Patriotismus im Krieg sterben, wo sind sie, wenn der Staat die in Kriegen verletzten jungen Menschen vergisst, ihrem Leid und Elend überlässt, wo sind sie, wenn ältere Menschen aufgrund fehlender Krankenversicherung unversorgt ein erbärmliches Leben führen müssen, wo sind sie, wenn durch staatsgeförderte Finanzspekulationen Menschen ihr Hab und Gut verlieren, wo sind sie, wenn das Rechtssystem umgangen wird und immer neue perfide Methoden erfunden werden, um Menschen zu foltern.

Bei all den möglichen Beispielen wird eines deutlich: Dummheit infolge zu niedriger oder normaler Intelligenz und die infolge hoher Intelligenz treffen aufeinander und bilden ein unheilvolles Gemisch aus Verführung und Verführtsein; vereinen sich in dem Glauben, die eigene Dummheit sei der einzige gesellschaftliche, politische, religiöse, persönliche Weg der Wahrheit.

© 2013 Dr. Norbert Gramer

Auszug aus dem Buch:  Ich vor Du oder ES IST GENUG!
Video zu “Ich vor Du oder Es ist Genug”

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