Einer jener Stämme, der auch die Keys um 500 n. Chr. bevölkerte, die Calusa, begründete ein stabiles Kastensystem aus Adligen, dem Häuptling, dem obersten Kriegsherrn und dem Hohen Priester, auf der einen, dem Volk mit seinen Handwerkern, Jägern, insbesondere Fischern, Kriegern auf der anderen Seite. Obwohl sich die Calusa Indianer lange Zeit tapfer gegen die verschiedensten europäischen Eindringlinge wehrten, deren erster Anfang des 16. Jahrhunderts Juan Ponce de León, ein spanischer Konquistador, war, gingen sie mit der ersten Berührung eines spanischen Stiefels mit floridianischem Boden ihrem Untergang entgegen. Die Geschichte der Calusa zwischen den Anfängen des 16. und der Mitte des 18. Jahrhunderts ist mit Blut geschrieben. Lange konnten sie sich militärisch den Feldzügen der Spanier und auch den Versuchen, sie zu christianisieren, widersetzen. Weder die dominikanischen noch jesuitischen Missionare überzeugten sie von der Existenz des einen Gottes, glaubten sie doch seit Jahrhunderten an drei mächtige übernatürliche Wesen, die die materielle Welt, die Adligen und den Ausgang der Kriege lenkten und bestimmten. Erst die Übernahme Floridas durch Großbritannien Mitte des 18. Jahrhunderts hatte den endgültigen Untergang, das Aussterben eines ganzen Volkes zur Folge. Anfang des 18. Jahrhunderts überfielen englische Truppen, unterstützt von Creek- und Yamaseekriegern, die Calusa, um sie zu versklaven. Durch den Kontakt mit den Europäern und fremden Indianerstämmen breiteten sich zusätzlich Seuchen aus, die Tausende dahinrafften. Als letzte Zufluchtgebiete für die Calusa, aber auch andere Floridaindianer wie die Seminolen, boten sich die sumpfigen südlichen und östlichen Gegenden Floridas und die Keys an, aus denen Teile von den Spaniern nach Kuba gebracht wurden. Mitte des 18. Jahrhunderts wurden auch die restlichen Indianer von den Engländern aus Florida nach Kuba vertrieben.
Die Calusa starben aus, genauso wie die Yamasee, die sich den Engländern verdingt, und fleißig am Sklavenhandel mit anderen Indianern verdient hatten. Die Creek oder Muskogee, die mit den Yamasee zumindest eine sprachliche Verwandtschaft aufweisen, leben heute, nach der Vertreibung aus ihren östlich des Mississippi gelegenen Stammesgebieten, in verschiedenen Bundesstaaten, in Oklahoma, Alabama, Florida. Immer noch versucht das Joshua Project, eine evangelikal-fundamentalistische Initiative zur Verbreitung und Vergrößerung der evangelikalen Gemeinschaften, die, wie auch die Islamisten, glauben, über die einzige Wahrheit zu verfügen, die sich in der Bibel als direktes Wort Gottes offenbart, den Creek ihre polytheistisch-animistische Religion auszutreiben und zu missionieren. Aus diesen fundamentalistischen Gemeinschaften erreichen viele das öffentliche Leben und beeinflussen die Politik direkt als Mandatsträger wie George W. Bush, Mike Pence oder Condolezza Rice oder nehmen indirekt Einfluss als Prediger wie Billy Graham, Rick Warren oder bedeutende Persönlichkeiten in Kultur oder Wissenschaft wie Jonny Cash, James Dobson oder John Grisham. Sie alle tragen unmittelbar oder mittelbar zum Untergang der nicht-evangelikalen Welt bei. Jede Abweichung oder Zuwiderhandlung von der fundamentalen Lehre ahndet die Strafe Gottes, mit Krankheiten, Natur- oder persönliche Katastrophen, Versagen. Es ist eine Religion der Angst, Strafe und Ausgrenzung.
Georges Gedanken lösten sich auf je näher er dem südlichste Punkt, dem Southernmost Point of the Continental US, kam. 90 Meilen bis zum 60 Jahre alten Erzfeind der USA, Kuba, eine paranoide Feindschaft. Eine Feindschaft, die sich erst nach dem zweiten Weltkrieg entwickelt hatte. Nur sieben Minuten nordwestlich von dem bunten Betonklotz, der die Entfernung zu Kuba markiert, steht in strahlendem Weiß und vielfach beflaggt The Harry S. Truman Little White House.
Truman, ein Name, der Erinnerungen hervorlockt, die von Untergängen und eines Aufbruchs, der ein schwacher war. Ein Name, der insbesondere mit Little Boy und Fat Man, den beiden Atombomben, die 1945 Hiroshima und Nagasaki zerstörten, und mit der Truman-Doktrin, die, in der Erweiterung durch die Rollback-Doktrin Dwight D. Eisenhowers, bis in die heutigen Tage die Einmischung – auch die militärische – der USA in andere Staaten zum Zwecke der Abwehr kommunistischen Einflusses oder des Kampfes gegen den Terrorismus, insbesondere aber die Durchsetzung eigener Interessen zum Ziel hat, und mit dem Versuch, die New-Deal-Politik Franklin D. Roosevelts fortzuführen und damit den Sozialstaat zu stärken und eine allgemeine Krankenversicherung einzuführen, in Verbindung gebracht wird.
Der Abwurf der Atombomben, obwohl er bis heute mit den möglichen Millionen Toten, die militärische Alternativen zum Abwurf gefordert hätten, gerechtfertigt wird, diente der Zurückdrängung kommunistischer Einflussnahme in Asien, die nachfolgenden atomaren Probeläufe in der amerikanischen Wüste zur militärischen Abschreckung gegen das Schreckgespenst Kommunismus. Die Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki beendeten zigtausende Leben auf japanischem Boden, bewirkten das Ende des Zweiten Weltkriegs in Asien und können als Beginn des Kalten Krieges angesehen werden – in dem auch Kuba eine kleine, aber bedeutende Rolle spielen sollte. Jenes Schreckgespenst geistert noch heute in vielen US-amerikanischen Köpfen. Mit der Angst davor werden seit Jahrzehnten bis heute, bis zu Trump, soziale Reformen im Land verhindert. Schon die Verwendung des Wortes allgemeine Krankenversicherung kann bei einigen den reflexartigen Vorwurf hervorrufen, man plane die Abschaffung des freien Marktes und wolle einen sozialistischen oder kommunistischen Staat implementieren.
Was denken, was empfinden, wie verhalten sich Soldaten, die aus dem Krieg zurückkommen, nach der Gefangenschaft, einer schweren Verletzung oder nach der letzten verlorenen Schlacht? Sie sind verletzt, körperlich und seelisch. Wie gehen sie um mit den Erfahrungen, der eigenen Verletzung, dem Verlust von Beinen und Armen, dem Wissen, andere getötet oder verletzt zu haben, Familien und Freunde in der Heimat verloren zu haben im Bombenhagel oder gnadenlosem Häuserkampf? Was denken sie über die, die sie in den Krieg geschickt hatten? Manche zürnen mit der Erkenntnis, den Krieg verloren zu haben, glauben noch an die verlogenen Ideale, für die sie in die Schlacht gezogen sind, glauben daran für den Rest ihres Lebens. Die Aufzeichnungen der Nürnberger Prozesse schildern, wie viele Angeklagte noch mit der besiegten Ideologie verbunden waren. Doch ihr Geist wabert noch in vielen späten Anhängern des Naziregimes. Andere schließen die Erinnerungen ein, sprechen nie mehr über das Erfahrene, sterben mit der Last des Erlittenen. Wieder andere wissen, dass sie einen großen Teil ihres Lebens einem falschen Leben geopfert haben. Sie leiden wie die, die sich und ihre Taten und Erlittenes in sich einschließen, bis zum Ende, im Bewusstsein, viel von ihrem Leben vergeudet zu haben, sinnloser Propaganda und tödlichen Versprechen gefolgt zu sein. Wie kann man mit diesem Bewusstsein leben? Charles Sweeney plagten solche Gedanken nicht. Er warf die Atombombe Fat Man über Nagasaki ab und glaubte bis zu seinem Tod, dass der Abwurf Tausende von Menschenleben gerettet und den Krieg beendet habe. Auch Paul Tibbets, aus dessen Bomber Little Boy, die erste in einem Krieg angewendete Atombombe, in Richtung Hiroshima fiel, blieb von solchen Qualen verschont und betonte nach dem Krieg immer wieder, er „würde es wieder tun, wenn die Kriegslage und die Umstände genau dieselben wären“. Gerne verwies er auch auf ein Treffen mit Truman, der ihm versicherte, dass er seine Pflicht getan habe.
Auf die Pflicht beriefen sich nach dem Zweiten Weltkrieg viele, die unendliches Leid über Hunderttausende von Menschen gebracht hatten. Die Pflicht. Ein unheilvolles Wort, eine tödliche Attitude. Walter, das Milchbrötchen in Siegfried Lenz‘ Roman Der Überläufer analysiert sehr genau, was es mit der Pflicht auf sich hat, wenn er sagt: „Dieses Zeug haben sie uns unter die Haut gespritzt. Sie haben uns irre damit gemacht, unselbständig. Die haben versucht, uns durch eine raffinierte Injektion von Pflichtserum besoffen zu machen“. Das Pflichtserum hat heute viele Namen, es verbirgt sich hinter der Vaterlandsliebe, dem Helden- und Totenkult nicht nur der amerikanischen Politik, der Ehrerbietung gegenüber Nationalfahnen und –hymnen und der Stilisierung politischer Symbolik und der Hypostasierung politischer Führer. Und es wird früh eingeimpft. Es ist ein Serum, das nicht Leben rettet, sondern zerstört.
Trumans von Roosevelt geerbten New-Deal führte zwar zu einer Erneuerung der Sozialpolitik, indem er die Sozialversicherungen auf niedrigem Niveau stabilisierte, die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung scheiterte aber an den konservativ-republikanischen Kräften in der Politik, die Eingriffe des Staates in vermeintlich private Belange bis heute ablehnt. Sie entsprachen und entsprechen damit dem Kern US-amerikanischer Ideologie, die manche Menschen dazu treibt, eher an einer Krankheit zu sterben, anstatt zu einer allgemeinen Krankenversicherung verpflichtet zu werden. Es ist ein seltsames Verständnis von Freiheit, das zwar staatliche Eingriffe verpönt, aber nach ihnen schreit, wenn es um Abtreibung, Reglementierung Andersdenkender oder die staatlich vollzogene Hinrichtung eines Delinquenten geht, das das „freiwillige“ Getötetwerden im Krieg als heldenhafte Tat verehrt.
Ach, ein widersprüchliches Land, diese USA, dachte George. Erfüllt von den höchsten Gedanken der Freiheit und Unabhängigkeit und Selbstverantwortung, aber auch von dem uneingeschränkter Gewalttätigkeit.
Er brauchte eine Pause. Er befand sich immer noch auf der Route 1, die hier auf Key West Truman Avenue heißt, und passierte ein kleines, geducktes Restaurant mit einem weiß-mintfarbenen Anstrich und grün-weißen Markisen, nur wenige Blocks vom Ernest Hemingway Home and Museum entfernt. Ein schöner Platz, um etwas zu essen und sich im Bereich der ruhigeren Seitenstraße auszuruhen. George bestellte sich Fresh Fillet of Yellowtail Snapper Teriyaki Style und ein einheimisches Bier, das Islamorada Ale. Das Restaurantgebäude existiert schon seit 1892, diente als Haushaltswaren- und Lebensmittelladen, als Wohnhaus eines Zigarrenproduzenten, als Hotel und seit 1948 als Restaurant mit verschiedenen Besitzern. Heute ist es ein Steak & Lobster House, in das sich nur wenige Touristen verirren. Um die Mittagszeit saßen nur Einheimische aus der Gegend in der kleinen Gaststätte, ein paar Angestellte aus umliegenden Geschäften und Betrieben, zwei Polizisten, eine ältere Frau und ein Soldat, vielleicht auf Heimaturlaub oder von einer der umliegenden Militär Basen.
Nicht nur Gott oder das allgemeine Übersinnliche taucht in vielen Fernseh- oder Spielfilmen in den USA auf, sondern auch die Helden der Kriege bevölkern Schmonzetten, soap operas und Spielfilme. In den 1950er bis zu den 70er und 80er Jahren waren es die Helden, die die deutschen Nazis besiegt hatten. Deutsche Schauspieler mimten gerne die Nazibösewichte. In den 70ern bis Anfang der 80er Jahre beschäftigte sich die Serie MASH mit dem Koreakrieg. In einer Mischung aus Komödie, Arztserie und Drama arbeiteten sich die Darsteller am Trauma Korea ab. Das Trauma Vietnam förderte keine Komödie mehr, sondern Antikriegsfilme wie Apocalypse Now oder Full Metal Jacket die den Vietnamkrieg thematisierten, aber auch Filme, die sich kritisch mit dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzten wie Der schmale Grat von 1998. Dennoch stürzten sie die Helden nicht vom Thron. Obwohl gebrochen lebt ihr Mythos weiter. Heute haben die Traumata 9/11, Iran und Afghanistan die alten fast abgelöst. Serien und Filme, in denen die Helden gnadenlos Taliban, Islamisten und andere Terroristen in den USA oder in Afghanistan oder auf der ganzen Welt jagen, lassen den Heldenmythos aufleben, der Tod fürs Vaterland ist wieder eine Ehre, die Zugehörigkeit zu bestimmten Waffengattungen auch. Tom Clancys Helden Jack Ryan, Jack Ryan Jr. und John Clark bekämpfen Terroristen, Kommunisten und Islamisten über einen Zeitraum von den 1980er bis zum Ende der 2010er Jahre mit Mut, Patriotismus und der Gewissheit, dass der US-amerikanische Weg immer der richtige und bessere ist. Es scheint, Truman saß mit an Clancys Schreibtisch. Zum Heldenmythos gesellt sich noch ein Totenkult um die sogenannten Gefallenen. Gefallen ist das gängige Wort für einen getöteten Soldaten. Das Wort gefallen involviert das Wort aufstehen, denn wer fällt, kann wieder aufstehen. Damit verknüpft sich das Verb gefallen mit der Affinität der Amerikaner zum Jenseitigen, dem Reich eines Gottes, dem Reich, in dem nach dem Elend auf der Erde die Belohnung winkt, die Unsterblichkeit, das Paradies, zumindest eine bessere Welt, auf die auch in vielen Soaps verwiesen wird. Aber auch in Filmen, deren Inhalt nicht das direkte Kriegsgeschehen ist, in kleinen Krimi-, Ärzte- oder Abenteuerfolgen wird immer an das Trauma und an die Heldentaten der Soldaten erinnert. Einer der Darsteller war immer ein Soldat in Vietnam, in Iran oder Afghanistan, und er war immer ein Held. Es gibt kaum eine Handlung, in der der ehemalige Soldat fehlt oder ein Unrecht begeht. Oft wird er zu Unrecht beschuldigt, am Ende aber bleibt der Soldat ein Held, der sich für sein Land geopfert hat, manchmal ein hochdekorierter aber vernachlässigter Veteran. Da rechtfertigen die bunten Serien mit ihren seichten Plots die Immunitätsregel für amerikanische Soldaten, die sich der Gerichtsbarkeit entziehen können. Das ist eine Aufarbeitung der Taten in der Vergangenheit und der Gegenwart auf niedrigstem Niveau.
George packte Bertrams Tagebuch aus, er hatte einige Tage nicht darin gelesen, Miami Beach und die Fahrt nach Key West hatten ihn zu sehr abgelenkt. Aber in dieser ruhigen Atmosphäre konnte er wieder lesen. Er blätterte das Tagebuch wahllos durch, er wollte nicht da anknüpfen, wo er aufgehört hatte. Eine Überschrift, da er im Nachbarstaat von Georgia war, machte ihn neugierig: „Georgia on my mind“ oder Auge um Auge: wie Religion Politik beherrscht“.
Aus:
Norbert Gramer
Norbert Gramer. FLUG DES SANDKORNS. Dissonante Erzählung einer Reise, S. 102 ff. (ISBN: 9783754334683).